Um die Entstehung eines Traumas zu erklären, gibt es verschiedene Modelle. Das so genannte Häschen-Denker-Modell von Hans-Joachim Görges und Lydia Hantke mag ich besonders, weil es sehr bildlich und gut verständlich ist und daher auch wunderbar genutzt werden kann, um Kindern zu erklären, was in ihrem Inneren passiert.
/ Bereiche des Gehirns
In diesem Modell steht der Denker für die Großhirnrinde, insbesondere den präfrontalen Kortex; seine Funktionen sind Impulskontrolle, Vernunft, das Treffen von Entscheidungen, bewusstes Denken, Selbstreflexion, Sprache/Kommunikation, Problemlösen, Handlungsplanung sowie Erinnern.
Das Häschen dagegen steht für die Vorgänge im limbischen System, vor allem der Amygdala, die auch als „Alarmanlage“ bezeichnet wird, und in den unteren Hirnregionen, insbesondere dem Stammhirn. genannt, welches grundlegende Funktionen des Körpers, wie z.B. Atmung, Blutdruck, Verdauung, Körpertemperatur und Herzfrequenz, regelt.
Ein weiterer wichtiger Bereich im limbischen System ist der Hippocampus, der auch „Archivar“ genannt wird. Seine Aufgabe ist es, eintreffende und ausgehende Informationen hauptsächlich nach den Kategorien Raum und Zeit zu ordnen und für eine Weiterverarbeitung zu sorgen. Er ist dabei sehr störanfällig und benötigt einen entspannten Zustand, z.B. Schlaf und Ruhephasen, für seine Arbeit.
Informationen können nur dann an höher gelegene Hirnregionen weitergeleitet werden, wenn das System, also das Häschen, nicht bedroht scheint. (Vgl. Görges/Hantke 2012, S. 35) Wenn die Zusammenarbeit zwischen Hippocampus und Großhirnrinde nicht funktioniert, kann Neues nicht verarbeitet und Gespeichertes nicht wiedergefunden und erinnert werden. (Vgl. Görges/ Hantke 2012, S. 52)
„All diese Strukturen sind nicht unabhängig voneinander: Je differenzierter die Tätigkeit des Gehirns, desto mehr Bereiche werden gleichzeitig aktiviert. (…) Je höher die Strukturen angesiedelt und je differenzierter die Funktionen sind, desto mehr sind sie auf tiefer gelegene als Basis der Nutzung angewiesen. Im Gegensatz dazu kann etwa der Hirnstamm (…) Funktionen wie Atmung und Herzschlag auch ohne die Hilfe höherer Hirnstrukturen regulieren.“ (Hantke/Görges 2012, S. 36)
/ Notfall-Reaktion
Gelangt ein Mensch in eine lebensbedrohliche Situation, erfolgt ein Umschalten im limbischen System: Die so genannte Notfall-Reaktion wird durch einen Alarm der Amygdala eingeleitet. Dann werden zur Vorbereitung von Kampf oder Flucht vollautomatisch große Mengen an Energie in den großen Muskeln bereitgestellt und gleichzeitig die Versorgung der Großhirnrinde herunter gefahren, wodurch das bewusste Denken eingeschränkt wird.
Der Denker, also die Großhirnrinde, ist zwar die am weitesten entwickelte Region des menschlichen Gehirns, gleichzeitig aber auch die schwerfälligste und die für das reine Überleben am unwichtigste. Stuft die Amygdala einen Reiz als akut lebensgefährlich ein, übernimmt daher das Häschen die Kontrolle: Denn der Denker wäre zu langsam. In Millisekunden wird der Denker vom Häschen abgetrennt, um das schnelle Reagieren zu ermöglichen. Blitzschnell mobilisiert das Häschen dann alle verfügbare Kraft. Die Wahrnehmung bleibt aufrecht; das Nachdenken wird blockiert.
Kann die Gefahr durch Kampf oder Flucht nicht abgewendet werden, wendet der Körper die letztmögliche Überlebensstrategie an und schaltet alle Funktionen so weit wie möglich ab. Es kommt erst zur Starre (Einfrieren) und schließlich zur Erschlaffung (Totstell-Reflex). ― In diesem Moment gibt es keine Verbindung mehr zur Großhirnrinde. Der Körper versucht die Gefahr, die er im Außen nicht abwenden kann, im Inneren unschädlich zu machen; das Bewusstsein entfernt sich.

Werden die Hirnregionen im Rahmen der Notfall-Reaktion voneinander entkoppelt, kann der Hippocampus seine Arbeit nicht machen. Es findet dann keine Einordnung in Zeit und Raum statt und die Erfahrungsinhalte werden nicht als zusammenhängend verarbeitet. Eine Unterscheidung von HIER und HEUTE sowie DORT und DAMALS ist nicht möglich, denn was nicht eingeordnet ist, kann aus hirnphysiologischer Sicht nicht vergangen sein. Es fühlt sich an, als wäre die Situation nicht vorbei.
„Wenn der Archivar, der Hippocampus, seine Aufgabe der Weiterleitung und Einsortiertung in neokortikale Systeme nicht leisten kann, fehlt (…) die Einordnung in die Dateistränge von Raum und Zeit auf der bewussten Ebene des Abrufes, vor allem aber die emotionale Zuordnung. (…)“ (Görges/Hantke 2012, S. 67)
Diese Aufspaltung (Fragmentierung) der Erfahrungsinhalte und ihre Abspaltung (Dissoziation) schützen das Individuum zwar vor der Wucht der Erlebnisse. Gleichzeitig macht dies die Verarbeitung so schwer.
/ Literatur
Görges, Hans-Joachim/Hantke, Lydia (2012): Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Paderborn: Junfermann Verlag